Marleen Suvis persönliche Ausstellung „We’ve never lived in a house“ liegt an der Schnittstelle zwischen dem intim Persönlichen und der paradoxen Universalität menschlicher Erfahrung und vereint 16 großformatige Leinwände zu einer großen Installation, die sich mit den Themen Erinnerung und Familie beschäftigt.
Die Beziehung zwischen Erinnerung und ihren physischen Speichermedien ist bedrückend, in dem Sinne, dass das zweite dem ersten seinen Horizont diktiert. Wie viele falsche Erinnerungen entstehen aus alten Familienfotos? Billionen? Und wie oft sind diese imaginären Deckerinnerungen zum Eckpfeiler des Gefühls und des Wissens über die eigene innere Welt geworden? In diesem Licht erscheint der Akt des Fotografierens fast wie ein Verbrechen – eine potenzielle Grundlage für Fälschungen. Kein Maß an Authentizität seitens des Fotografen kann die Lage retten; selbst Akte sind vor dem „kreativen“ Aspekt der Erinnerungsarbeit nicht sicher (insbesondere wenn man bedenkt, dass ein nackter Mensch nie wirklich nackt ist – er bedeckt sich mit Geschichten, nachdem er vergessen hat, jemals von ihnen besessen worden zu sein). Wenn wir glauben, Momente festzuhalten, sind wir in Wirklichkeit an der Schaffung von Erinnerungen beteiligt. Und aus diesen Erinnerungen entstehen unbewusste Ideale.
In den neunziger Jahren war das Ideal eines Wohnsitzes in Estland, das gerade in die Marktwirtschaft eingestiegen war, ein Privathaus mit all der Privatsphäre, dem Komfort und dem Luxus, die es versprach. Für die meisten war dieses Ideal jedoch unerreichbar – viele mussten sich mit einer Wohnung zufrieden geben. Aber andere Freuden des Konsums öffneten sich der breiten Öffentlichkeit, da viele Produkte und Geräte, die bis dahin Mangelware gewesen waren, allgemein verfügbar wurden. Das Fotografieren war bisher denjenigen vorbehalten gewesen, die bereit waren, viel Zeit und Mühe zu investieren, aber jetzt konnte jeder, der wollte, dank billiger Kompaktkameras und Fotolabors in fast jedem Einkaufszentrum, Fotograf werden. Dies führte zu einer buchstäblichen fotografischen Explosion – von Fotos auf Fotopapier –, die am Ende des Jahrzehnts wiederum durch die Flutwelle des Aufkommens der Digitalfotografie erloschen war.
Für die Eltern der Künstlerin bedeuteten diese Zeiten das Ende ihrer Jugend und den Beginn des Erwachsenenlebens. Denn das ist es, was es bedeutet, Kinder zu haben. Für die Künstlerin sind diese Zeiten vergangen, ihre Vergangenheit, in die sie selbst nicht zurück kann. Eine Vergangenheit, aus der Formen und Figuren hervorgehen, die fast vertraut sind, aber doch nicht ganz. Nicht wie hier, auf diesem Bild, in dieser Wohnung, in diesem Jahr – irgendwo Mitte der Neunziger, als jeder Kleidung aus jenen Materialien trug, deren Gefühl die Nervenenden der Synapsen bis heute irgendwo im Hinterkopf spüren können – Kleidung, die in ihrer Kuriosität und leichten Altmodischkeit immer noch das Herz erwärmt.
Diese Ausstellung beschäftigt sich mit einer hochkomplexen Art der Erinnerung, die sowohl mit Angst als auch mit Liebe verwechselt werden kann. Diese Ausstellung beschäftigt sich mit absoluter Verletzlichkeit.
„Wir haben noch nie in einem Haus gelebt“
5.07-04.08.2024
Eka-Galerie, Tallinn, Estland
Kurator: Aleksander Metsamärt
Technisches Team: Erik Hõim, Mihkel Ilus, Oliver Kanniste, Erik Liiv, Avo Tragel, Mattias Veller
Grafikdesign: Rainer Kasekivi
Danke an: Christine Bebelev, Mart Saarepuu, Mikael Suvi
Die Ausstellung wird von der Kulturstiftung Estlands unterstützt.
Eröffnungsgetränke der Põhjala-Brauerei.
Fotografie: Kaisa Maasik
Mehr lesen